Diese Überlegungen zum "Rätesystem in Deutschland" verfasste Richard Müller, in der Novemberrevolution 1918-1919 Vorstitzender des Berliner Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte, im Jahr 1921 für einen Sammelband mit dem Titel "Die Befreiung der Menschheit". Der Aufsatz fasst die Thesen des sogenannten "Reinen Rätesystems" zusammen, wie es von Ernst Däumig, Richard Müller und anderen Protagonisten der Novemberrevolution seit dem Frühjahr 1919 entwickelt wurde.
1. Entstehung des Rätegedankens
Der Rätegedanke und die Arbeiterräte werden des öfteren als spezifisch russische Erscheinung bezeichnet. Das beruht auf einer Verkennung der objektiven Ursachen dieses neuen Gedankens. Der Rätegedanke ist eine Ausdrucksform des proletarischen Klassenkampfes, der proletarischen Revolution, die sich im entscheidenden Stadium befindet. Man könnte allerdings aus der Revolutionsgeschichte früherer Jahrhunderte ähnliche Erscheinungsformen nachweisen; doch darauf will ich im Rahmen dieser Arbeit verzichten.
Im Jahre 1905 brach die erste Periode der russischen Revolution an. Bis zu dieser Zeit duldete der Zarismus keine Arbeiterorganisationen. Er unterdrückte die Gewerkschafts- wie auch die politische Parteiorganisation. Nicht unterdrücken konnte er aber die vom Kapitalismus selbst geschaffenen Organisationsgebilde der Arbeiter in den Großbetrieben. Hier führte die entwickelte kapitalistische Produktionsform die Arbeiter zu großen Massen zusammen. Ohne organisatorisch fest verbunden zu sein, lösten die gemeinsamen Interessen der in den Großbetrieben zusammengeballten Arbeitermassen einheitliche Willensbekundungen aus. weiterlesen »