Perspektiven der autonomen Arbeiterorganisationen Norditaliens in der europäischen Krise

Die Besetzung des Maflow-Werks im März 2013 und seine Vorgeschichte

Trezzano, Italien

Erstmalig hatten sich im Zeitraum von 1919 bis 1920 in den industriellen Zentren Norditaliens unabhängige und lokale Arbeiterorganisationen gebildet: Vor allem die Fabrikräte von Turin konnten im Laufe dieser Zeit, die von einer weit verbreiteten Militanz in der gesamten Arbeiterklasse geprägt war, die Selbstwahrnehmung vieler kämpfender Lohnabhängigen weg vom passiven „Lohnempfänger“ hin zum Selbstverständnis eines selbstbewusst-produktiven Produzenten verschieben. Aufgrund der konfliktträchtigen Beziehung der Räte zu den reformistischen Gewerkschaften und der zerstrittenen Sozialistischen Partei gelang es ihnen jedoch nicht, über den betrieblichen Rahmen hinauszugreifen und ihren politischen Forderungen auch im Staat Nachdruck zu verleihen. [1]

Mehr als 50 Jahre nach den ersten Fabrikräten, die schließlich dem italienischen Faschismus vollständig zum Opfer fielen, zeugt die große Niederlage des Streiks von 1980 in den Fiat-Werken im Turiner Werk Mirafiori nicht nur vom Ende der „langen 1968er“, sondern gleichzeitig auch vom Scheitern der zweiten Fabrikarbeiterbewegung:

Dabei zielten die autonomen Kämpfe der Lohnabhängigen auf die direkte Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen und der Gewerkschaften, richteten sich gegen die Lohnunterschiede unter den Arbeitern und Angestellten und problematisierten die kapitalistische Tätigkeit als solche. Im Vergleich zu Frankreich, der BRD und den USA blieb das Niveau der gesellschaftlichen Politisierung für eine sehr lange Dauer verhältnismäßig hoch. In der Folge des Desasters von Mirafiori mussten sich die um vollkommene gewerkschaftliche Unabhängigkeit kämpfende neue soziale Bewegung Autonomia Operaia (Arbeiterautonomie) und die stärker integrativ ausgerichteten autonomen Arbeiterversammlungen jedoch schließlich ein weiteres Mal den systemstabilisierenden Interessen der großen Arbeitnehmerverbände unterordnen.

Dass sich die Verdienste dieser Mobilisierungswelle zwar besonders in Gestalt verbesserter industrieller Arbeitsbedingungen niederschlugen, [2] kann jedoch nicht über entscheidende strukturelle Veränderung hinwegtäuschen: Die innere Schwäche, die zur endgültigen Niederlage der Fabrikarbeiterbewegung gegen die „Kollaboration der Gewerkschaftsbürokratie“ der CGIL, CISL und UIL geführt hat [3], kann nur im Kontext des globalen Aufkommen des Postfordismus und Neoliberalismus verstanden werden. [4]

So machten sich bald auch in den stark industrialisierten Gebieten des Piemont, der Lombardei und dem Veneto die zentrifugalen Kräften der Postmoderne bemerkbar: Ganz im Sinne von „small is beautiful“ oder einer „lean production“ wurden besonders im italienischen Nordosten neue, ‚organische Industriedistrikte‘ gegründet, deren Produktivität weniger auf besonderer Schul- und Ausbildung der Beschäftigten basierte, sondern vielmehr auf Spezialkenntnissen meist in der Metall- und Textilverarbeitung, die vor Ort über mehrere Generationen hinweg gewachsen sind.

Wie beim deutschen Vorbild einer „alternativen“ Ökonomie träumte man dabei auch in Italien von „produktiven und gerechten, egalitäreren und kooperativeren Beziehungen zwischen Arbeitern und Kapital. De facto entstanden jedoch kaum mehr als kleine mittelständische Betriebe, die zunächst auf dem Rücken der Ortsansässigen und später der Arbeitsmigranten mühsam aufrechterhalten, ihrerseits jedoch gleichermaßen vom Strukturwandel innerhalb weniger Jahre an ihre Grenzen geführt wurden. [4]

So formierte sich mit diesen „diffusen Fabriken“ sowie einem rasant anschwellenden informellen Arbeitssektor im Zuge der Arbeitsmigration in den 80er Jahren eine scheinbar neuartige Arbeiterklasse. Auch das durch die neoliberalen Reformen in den urbanen Zentren heute immer weiter ausufernde Heer oft hochgebildeter Selbstständiger und Scheinselbständiger muss als deren inhärenter Bestandteil betrachtet werden. Im Unterschied zu den modernen Industriearbeitern des Fordismus fiel deren politischer Bezugspunkt jedoch kaum noch den traditionellen Arbeiterbewegungen zu, sondern weitaus öfter, falls überhaupt noch vorhanden, rechts-reaktionären Projektionsflächen wie Berlusconis Lega Nord.

Kurzum: Den autonomen Arbeiterbewegungen wurde mit einer vordergründigen Auflösung des Klassenbegriffs durch die postmoderne Unübersichtlichkeit ihre Daseinsberechtigung entzogen. Und es kann daher auch nicht verwundern, wenn im frühen 21. Jahrhundert das ‚zerriebene Resterbe‘ der einstigen Massenbewegungen sich allenfalls noch den Kern einer diffus gewordenen globalisierungskritischen „Bewegung der Bewegungen“ verkörpern zu vermag. [2]

Als Ganze hat ‚die Linke‘ es damit aufgegeben, den eindeutigen Bezug auf die revolutionären Ziele der traditionellen autonomen Arbeiterbewegungen zu wahren und die praktische Auseinandersetzung mit deren Problemen auch in der Gegenwart weiter zu vollziehen. So zeigt sich die Gesamtheit der postmodernen Widerstandsbestrebungen dagegen vielmehr der Gefahr ausgesetzt, an bloßen Symptomen ihrer Zeit sich aufzuheizen, gleichzeitig aber umso hilfloser, deren ‚systematische Bedingtheit‘ überhaupt noch in Frage zu stellen. [5]

Im südlichen Industrievorort von Mailand jedenfalls scheint man sich der postmodernen Beliebigkeit dagegen noch sichtlich gewahr zu sein. Um ihrer Forderung nach „Arbeit, Einkommen, Würde, Selbstverwaltung“ selbst Nachdruck zu verschaffen, wurde in Trezzano sul Naviglio eine heruntergewirtschaftete Fabrik des globalen Autozulieferers Maflow von ehemaligen Arbeitern und Arbeitslosen besetzt.

Das Unternehmen Maflow ist einer der führenden Zulieferer von Automobilteilen für BMW. Maflow wurde 2004 aus der Gruppe Manuli Rubber ausgegliedert und mit außerbörslichen Eigenkapital, dem Private Equity Fund Italian Lifestyle Partner, weitergeführt, woraufhin es sich zu einem internationalen Unternehmen mit italienischem Kapital und 23 Betrieben weltweit entwickelte. Allein in Trezzano waren 320 Mitarbeiter beschäftigt.

Ungeachtet der konstanten Auftragslage wurde das Maflow-Werk in Trezzano vom Gericht Mailand im Jahr 2009 jedoch für zahlungsunfähig erklärt - durch Fehlinvestitionen und Missmanagement hatten sich bis dahin Schulden von 300 Millionen Euro angesammelt. Als der neue polnische Eigentümer Boryszew den Rotstift schließlich vor allen aber beim Personal zu ziehen trachtete und in der Folge lediglich 80 der zuvor 320 Mitarbeiter zu übernehmen bereit war, begannen viele der Entlassenen, sich gegen das Management zu erheben.

Etwa 50 Arbeiter machten sich sogar persönlich auf nach München, zum Hauptsitz von BMW, um dort selbst für neue Aufträge zu werben: Der Münchner Autobauer war mit etwa 80% des Umsatzes der größte und damit auch der einflussreichste Kunde. Letztlich blieb das Engagement jedoch erfolglos, sodass Ende des Jahres 2012 das Maflow-Werk in Trezzano vom Boryszew-Management endgültig aufgegeben wurde.

Als selbstverwaltete Genossenschaft Ri-Maflow ist die Firma erst vor wenigen Monaten, im März 2013, wieder in Betrieb gegangen. Die großen Werkallen in Trezzano stehen heute jedoch leer - sämtliche Produktionsmittel wurden vom Eigentümer zuvor noch nach Polen gebracht, wo sie zu geringeren Lohnstückkosten weiterhin betrieben werden. Die Besetzter der Fabrik sahen sich daher vor eine besonders schwierige Herausforderung gestellt - und veranlassten kurzerhand die Neuausrichtung ihrer Produktion auf den ökologischen und sozialen Sektor. Das Sammeln und Recycling von Elektroschrott soll die zukünftige Hauptaktivität des Projekts darstellen. Besonders der überlebensnotwendige Marktzugang und die gesetzliche Anerkennung als Genossenschaft zur Abgrenzung vom informellen Sektor ließen sich hierdurch auch in kurzer Zeit sicherstellen. [6]

Um die Organisation des Arbeitsalltags in der Zukunft selbst bewerkstelligen zu können, wird Ri-Maflow von der Ökonomin Silvia Agati unterstützt. Für einen Betrieb sensa patroni (ohne Vorgesetzte) ist es für die ehemaligen Arbeiter jetzt besonders wichtig, sich auch mit systematischen, prozessbezogenen und unternehmerischen Denken vertraut zu machen. Während die Genossenschaft Ri-Maflow dabei direkt auf die Produktion gerichtet ist, organisiert das direkt angeschlossene Projekt "Occupy Maflow" außerdem Veranstaltungen mit Bezug auf das öffentliche Interesse - etwa zur Krise oder über alternative Finanzierungsmöglichkeiten von selbstverwalteten Betrieben. [7]

Der ehemalige Maflow-Arbeiter Michele Morini wirkt derzeit, wie einer seiner 19 Kollegen, aktiv am Projekt mit: Auch wenn, wie er glaubt, es für Ri-Maflow vor allem in der lokalen Öffentlichkeit besser sei, sich als pragmatisch orientiert darzustellen, müsse die Forderung nach Selbstverwaltung jedoch als zentraler Bestandteil eines politischen Gesamtprozesses verstanden werden. Denn nur die Form der Selbstverwaltung kann den Arbeitern ihre eigene Kraft vor Augen führen und gleichzeitig den kapitalistischen Zwängen konstruktiven Widerstand leisten.

Interessant sei es in der jetzigen Situation von Ri-Maflow, wie die Beraterin Agati zudem betont, den Blick auf die jüngsten Erfahrungen der Fabrikbesetzer in Argentinien zu richten. Dennoch bleibt auch sie kritisch: Zwar konnten in Argentinien nach der Wirtschaftskrise 2001 zahlreiche Firmen - oft sogar mit Produktionsmitteln - von den Arbeitern in Selbstverwaltung übernommen werden. Die argentinischen Kämpfe zeigen damit einerseits, dass auch in rentablen Betrieben eine Übernahme der Verwaltung durch die Arbeiter möglich ist. Andererseits aber machen sie zugleich die engen Grenzen derartiger Projekte im bürgerlichen Staat deutlich, unter dessen Einfluss die Fabriken langfristig betrachtet zwangsläufig einen der beiden kapitalistischen Wege einschlagen müssen: Akkumulationszwang mit Hilfe der Beschäftigung von Lohnarbeitern im erfolgreichen Fall, viel öfter aber Selbstausbeutung und unabwendbarer Konkurs. [8]

Bei den Arbeitern von Ri-Maflow herrscht heute, trotz jener denkbar schlechten Voraussetzungen, spürbare Aufbruchsstimmung. Es war die Entscheidung zu Selbstverwaltung, die vielen Entlassenen in Trezzano den Inhalt der Worte von Würde und Sinn wieder etwas näher gebracht hat. Der längerfristige Erfolg von Ri-Maflow und einer neuen Arbeiterbewegung wird sich wohl daran messen lassen müssen, in wie weit eine substanzielle und auch theoretisch fundierte Abgrenzung der autonomen Arbeiteraktionen von jener ideologischen Beliebigkeit der postmodernen ‚Bewegung der Bewegungen‘ gelingt. Gewiss ist jedoch auch: Nur ökonomisch-politische Aktionen, die sich zur heutigen Lebenswelt als anschlussfähigen erweisen, können auch die Massen der neuen Arbeiter von der Idee des kritischen Blicks auf das Totale und der Notwendigkeit eines sozialistischen Ansatzes für das 21. Jahrhundert überzeugen.

 

Anmerkungen und inhaltliche Verweise:

 

[1] vgl. hierzu den Aufsatz von Pietro di Paola, „Fabrikräte von Turin 1919/1920: „Die einzigen authentischen gesellschaftlichen Vertreter der proletarischen Klasse“ Abgedruckt in: Dario Azzelini/Immanuel Ness (Hrsg.): ‚„Die endlich entdeckte politische Form‘. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute.“, S. 165ff.

[2] vgl. hierzu den Aufsatz von Patrick Cunninghame, „Arbeiterautonomie und der italienische ‚Heiße Herbst‘: die Fabrikräte und die autonomen Arbeiterversammlungen der 1970er Jahre“. Abgedruckt in: Dario Azzelini/Immanuel Ness (Hrsg.): ‚„Die endlich entdeckte politische Form‘. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute.“, S. 403ff.

[3] Die drei einflussreichen Gewerkschaftsverbände Italiens sind die Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL), die Confederazione Italiana Sindicati Lavoratori (CISL) und die Unione Italiana del Lavoro (UIL).

[4] Siehe hierzu den Artikel „Das Ende eines Modells? Italiens Nordosten in der Krise“ unter http://www.wildcat-www.de/wildcat/74/w74_nordest.htm.

[5] So muss sich etwa die im westlichen Turiner Umland, dem Val di Susa seit 20 Jahren stark aktive und organisierte Bewegung NoTav (http://www.notav.eu), die sich gegen den Neubau einer Hochgeschwindigkeitstrasse durch die Alpen des Piemonts ausspricht, mit dieser Problematik kritisch auseinandersetzen. Zunehmend scheinen in jenen, zum Aktionismus tendierenden und zu sehr rein auf partikulare und regionale Belange gerichteten Bewegungen diesbezügliche, die postmoderne Ideologie überwindende Überlegungen an Stellenwert zu verlieren. Es ist die Glaubwürdigkeit des gesamten Anliegens in der kritischen internationalen Öffentlichkeit, die hierbei gefährdet wird, was allenfalls einer bloßen Kriminalisierung der Aktivisten seitens der bürgerlichen Medien Vorschub zu leisten vermag.

[6] Für die offizielle Webseite des Projekts Ri-Maflow siehe http://rimaflow.it/.

[7] Sehr detaillierte Informationen enthält die ausführliche Darstellung von Alessandra Sciurba unter https://respondingtogether.wikispiral.org/tiki-read_article.php?articleId=116.

[8] vgl. hierzu den Aufsatz von Marina Kabat, „Die besetzten Fabriken in Argentinien. Wege der Arbeiterkontrolle in der Krise“. Abgedruckt in: Dario Azzelini/Immanuel Ness (Hrsg.): ‚„Die endlich entdeckte politische Form‘. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute.“, S. 458ff.