Das Geschichtsbild der deutschen Novemberrevolution 1918 bei Eberhard Kolb, Susanne Miller, Heinrich August Winkler und Helga Grebing
Die Geschichtsschreibung in der alten Bundesrepublik[1] über die Novemberrevolution 1918 war bis Anfang der 1960er Jahre geprägt von der Interpretation, die MSPD-Führung[2] um Ebert und Scheidemann hätte nach Erlangung der Macht am 9./10. November 1918 auf Grund der innen- und außenpolitische Lage mit den alten Eliten des Kaiserreichs in Armee und Verwaltung zusammenarbeiten und alle Initiativen aus der Arbeiterschaft nach Demokratisierung des Heeres, der Verwaltung und der Wirtschaft abblocken und sogar bekämpfen müssen. Als Begründung und Rechtfertigung für diese Politik wurde meist die Verhinderung einer drohenden bolschewistischen Diktatur angegeben. Repräsentant dieser Geschichtsinterpretation war hauptsächlich der Kieler Geschichtsprofessor Karl Dietrich Erdmann, der als Kommentator des Bandes zur Weimarer Republik zum Handbuch der Deutschen Geschichte verantwortlich zeichnete und damit eine gewisse Meinungsführerschaft innehatte.
Gegen das von Erdmann und anderen Historikern noch mehrheitlich repräsentierte und stark verfestigte Geschichtsbild der Novemberrevolution wandten sich die Pionierstudien von Eberhard Kolb 1963 (überarbeitete Fassung einer Dissertation von 1959) zu den Arbeiterräten und die von Peter von Oertzen 1963 über die Betriebsräte. Dabei knüpften sie an Wertungen an, die einerseits von Rudolf Hilferding und dem Vorstand der Exil-SPD nach 1933 und andererseits vom Historiker Arthur Rosenburg vorgenommen worden waren. Die neuen Forschungsergebnisse lösten auf dem Deutschen Historikertag 1964 in Berlin (West) heftige Diskussionen aus. Schließlich setzte sich in der westdeutschen Historiographie im Laufe der 1960er und 1970er Jahre auf Grund zahlreicher weiterer fundierter Forschungsarbeiten einschließlich Quelleneditionen eine Neuinterpretation der deutschen Novemberrevolution 1918 durch. Dabei wurde die Zeitdauer der revolutionären Phase unterschiedlich angesetzt, teilweise bereits mit einem Beginn mit dem Massenstreik in den deutschen Rüstungsbetrieben im Januar, Februar 1918 und mit einem unterschiedlich angesetzten Ende, entweder mit der Niederschlagung der Münchener Räterepublik oder der der Ruhrkämpfe nach dem Kappputsch 1920.
Zu dieser neuen Interpretation der Novemberrevolution gehörten im Wesentlichen folgende Punkte:
- Die propagierte Furcht vor einer bolschewistischen Diktatur, an die die mehrheitssozialdemokratische Führung z. T. sogar glaubte, hatte keine realistische Grundlage, da die Mehrheit der Arbeiter der Position der Mehrheitssozialdemokratie zustimmte. Es bestand deshalb für die SPD-Führung keine Notwendigkeit zur bedingungslosen Zusammenarbeit mit den alten antidemokratischen Eliten im Heer und in der Verwaltung. Die Situation wies eine relativ große Offenheit mit Möglichkeiten für tiefgreifende Reformen zur Fundierung einer sozialen Demokratie auf.
- In der Arbeiterschaft, die also mehrheitlich auf Seiten der SPD stand, wurde der Beginn entschiedener Demokratisierungsmaßnahmen im Heer, in der staatlichen und kommunalen Verwaltung und in der Wirtschaft erwartet.
- Das Ausbleiben entsprechender Maßnahmen wegen des Nichthandelns oder sogar Entgegenhandelns der mehrheitssozialdemokratischen Führung führte ab 1919 zur Radikalisierung der Massen.
- Die Arbeiter- und Soldatenräte werden meist als demokratisches Potential gewertet, das für die Realisierung grundlegender sozialer und demokratischer Reformen hätte genutzt werden können. Das von MSPD- und Gewerkschaftsführung gegenüber den Räten gehegte Misstrauen und die Ablehnung der Rätebewegung werden von einem Teil der westdeutschen Historiker als verpasste Chance angesehen.
Protagonisten dieses neuen Geschichtsbildes waren zunächst Kolb und von Oertzen, zu denen in den folgenden Jahrzehnten u. a. Erich Matthias, Helga Grebing, Walter Tormin, Susanne Miller, Heinrich Potthoff, Reinhard Rürup, Heinrich August Winkler, Volker Kluge, Peter Brandt hinzutraten. Insgesamt werden die politischen Ereignisse in Deutschland um den 9. November 1918 herum nicht als bloßer Zusammenbruch, sondern als eine revolutionäre Volkserhebung gewertet, allerdings als eine stecken gebliebene oder unvollendete Revolution.[3]
Die Einschätzung der revolutionären Erhebung in Berlin am 9. November 1918
Obwohl also eine kritische Haltung gegenüber der Politik der führenden Mehrheitssozialdemokraten und Gewerkschaftern festzustellen ist, sind die Standardwerke von Autoren der alten Bundesrepublik wie z. B. von Eberhard Kolb, Susanne Miller oder Heinrich August Winkler und sogar die Untersuchung Peter von Oertzens – wesentliche neuere Untersuchungen gibt es noch nicht[4] – dadurch gekennzeichnet, dass sie die Rolle der linkssozialistischen Kräfte, die in Berlin eine Massenaktion mit Regierungsumsturz und Errichtung einer sozialen Republik vorbereiteten und am 9. November 1918 durchführten (hauptsächlich die Revolutionären Obleute in Zusammenarbeit mit Teilen der linken USPD und der kleinen Spartakusgruppe) als weitgehend belanglos beurteilen bzw. sogar negieren.
Tatsächlich hätte es ohne die gut vorbereitete Aktion der Linkssozialisten den revolutionären Umsturz in Berlin nicht gegeben. Noch bevor sich seit dem 4. November die von den Matrosen getragene revolutionäre Bewegung von den Küstenstädten aus ins Binnenland ausbreitete, hatten in Berlin die revolutionären Obleute, die Hauptträger des Munitionsarbeiterstreiks vom Januar, Februar 1918, auf einer Sitzung am 2. November den Termin für den schon seit Frühsommer 1918 vorbereiteten Massenstreik mit bewaffneter revolutionärer Erhebung auf den 11. November festgesetzt. Als am Vormittag des 8. November den Aufstandsplanern die intensive Beschattung einer Sitzung im USPD-Parteibüro am Schiffbauerdamm durch die Politische Polizei auffiel und sie die Besprechung in das Reichstagsgebäude verlegten, wurde der Stratege des Aufstandes, der kommissarische USPD-Parteisekretär Ernst Däumig, auf der Straße verhaftet und die von ihm mitgeführten Aufstandspläne beschlagnahmt. Die führenden Linkssozialisten mussten nunmehr weitere Verhaftungen befürchten - zumal entsprechende Gerüchte durch die Stadt schwirrten - und hätten deshalb bis zum 11. November untertauchen oder sogar den Aufstand vorläufig absagen können. Doch die vor der Polizei ausweichenden und deshalb getrennt vorgehenden Aufstandsführer entschlossen sich von verschiedenen Stadtteilen aus einhellig für ein Losschlagen am folgenden Tag, dem 9. November, und gaben unterschiedliche Flugblätter mit der Aufforderung zum Massenausstand heraus. Dem informellen Leiter der revolutionären Obleute Emil Barth gelang es noch, eine Reihe von Vertrauensleuten aus den Betrieben zusammenzutrommeln und ihnen die letzten Anweisungen zu geben, so dass am Morgen des 9. November die Waffenausgabe als besonders wirksames Signal für den Aufstand sowie die mündliche und schriftliche Streikaufforderung planmäßig erfolgen konnte. Nach der Frühstückspause verließen die Arbeiterinnen und Arbeiter die Betriebe und strebten in bewaffneten Demonstrationszügen zum Stadtzentrum, um entsprechend der Aufstandsplanung bei den Kasernen die Soldaten zum Anschluss an die Revolution zu bewegen und wichtige Regierungsgebäude zu besetzen. Zwischen 10 und 11 Uhr vormittags war klar, dass fast alle Berliner Betriebe sich dem Massenausstand angeschlossen hatten und die Aufständischen nur vereinzelt auf schwachen militärischen Widerstand stießen.
In der Woche vor dem 9. November hatten die Militärs und Polizei noch alles versucht, um die Berliner Arbeiterschaft einzuschüchtern und die Revolution von der Reichshauptstadt fernzuhalten. Gleichzeitig entfaltete die mehrheitssozialdemokratische Parteiführung, die schließlich an der Regierung mit 2 Staatssekretären beteiligt war, in der ersten Novemberwoche eine Riesenpropaganda gegen eine Massenerhebung und bat noch am Morgen des 9. November mit einem Aufruf im „Vorwärts“ die Arbeiterinnen und Arbeiter um Geduld. Erst als im Laufe des späten Vormittags den MSPD-Führern klar wurde, dass weder die polizeilichen und militärischen Maßnahmen noch ihre massiven Beruhigungskampagnen etwas bewirkt hatten, sondern dass die Berliner Arbeiterschaft der Parole der Linkssozialisten zum Massenaufstand folgte, ließen sie selbst mittags Flugblätter mit der Aufforderung zum Generalstreik verbreiten, also erst zu einem Zeitpunkt, als sich die Arbeitermassen aus den Fabriken der Außenbezirke und Vorstädte schon der Berliner Innenstadt näherten. Hatte die SPD-Führung in den Tagen vor dem 9. November 1918 lediglich eine stärkere Beteiligung an der Regierung gefordert, so verlangte sie unter Ausnutzung der gegen ihren massiven Widerstand von linken Arbeitervertretern, den Revolutionären Obleuten, ausgelösten, unterdessen erfolgreichen revolutionären Massenerhebung in Berlin vom Reichskanzler Max von Baden die Machtübergabe an die Sozialdemokraten. Sowohl der verspätete Aufruf zum Generalstreik wie die erste Proklamation nach der Regierungsübertragung erweckten gegenüber der Öffentlichkeit, vor allem gegenüber der Arbeiterschaft, den Eindruck, als ob die Mehrheitssozialdemokraten selbst die ganze Zeit immer an der Spitze der revolutionären Bewegung gestanden hätten.[5]
Ganz in diesem Sinne lautete im Sommer 1919 die Darstellung der Parteileitung gegenüber dem SPD-Parteitag. Danach hatten allein die Mehrheitssozialdemokraten die revolutionäre Erhebung in Berlin getragen. Die revolutionären Obleute, USPD- und Spartakusvertreter werden in diesem Zusammenhang überhaupt nicht erwähnt.[6]
Die Historikerinnen und Historiker der alten Bundesrepublik, die – wie bereits dargestellt - die mehrheitssozialdemokratischen Gesamtpolitik in den Jahren 1918 bis 1920 durchaus einer kritischen Bewertung unterzogen hatten, liegen erstaunlicherweise weitgehend auf der Linie dieser SPD-offiziellen Darstellungsweise des 9. November 1918 in Berlin, ohne sie direkt zu erwähnen und ohne eine eigene gründliche Untersuchung des revolutionären Aufstandes in Berlin vorzunehmen.
So findet sich in Eberhard Kolbs Standardwerk über die Arbeiterräte eine deutliche Fehleinschätzung oder Unterschätzung des revolutionären Arbeiteraufstandes in Berlin: „…die entscheidenden Ereignisse am 9. November in Berlin vollzogen sich ohne ihr Zutun [der Obleute] und nicht unter ihrer Führung.“ Und: „Trotz aller ihrer Revolutionsvorbereitungen vollzog sich der Umsturz ohne ihre Initiative…“[7] Die Trägerschaft der revolutionären Massenaktion durch die Revolutionären Obleute wird hier also negiert. Ganz ähnlich – an der historischen Wirklichkeit vorbei - formuliert von Oertzen, dass „es den revolutionären Obleuten nicht gelungen war, den Umsturz in Berlin selbst auszulösen und zu führen…“ Der „spontane Aufstand“ sei den Obleuten zuvorgekommen.[8]
In die gleiche Richtung gehen einige Aussagen Susanne Millers in ihrem Standardwerk über die Sozialdemokratie von 1918 bis 1920. Auch sie nimmt an, dass die den revolutionären Massenstreik planenden und dann auch auslösenden Linksozialisten an den Massenaktionen keinen Anteil hatten: Die von der Berliner Arbeiterschaft getragene revolutionäre Erhebung am 9. November wird von ihr als „Protestkundgebung [!!!], die ohne organisatorische Vorbereitung zustande kam“[9] gekennzeichnet, was zweifelsfrei den historischen Tatsachen nicht entspricht. Die Verschiebung des Aufstandstermins vom 4. auf den 11. November bedeutet nach Miller, dass diese Pläne der Revolutionäre von den Ereignissen überholt worden sind, wobei sie vollständig ignoriert, dass die Planung kurzfristig auf den 9. November umgestellt wurde.[10]
In seinem Standardwerk über die Arbeiterbewegung in den ersten Jahren der Weimarer Republik gibt Heinrich August Winkler eine widersprüchliche Darstellung der Ereignisse. Er berichtet einerseits, dass der mehrheitssozialdemokratische Vorwärts am Morgen des 9. November die Berliner Arbeiterschaft noch aufgerufen hat, Geduld zu bewahren. Andererseits suggeriert Winkler, dass die Mehrheitssozialdemokratie den Ausbruch der Massenstreiks bewirkt habe. Denn Otto Wels hätte am 9. November um 8.00 den Generalstreik ausgerufen, während der von Emil Barth verfasste Aufruf zum Generalstreik „in kleiner Auflage“ nur „in einige Betriebe“ hätte gelangen können.[11] Im weiteren Verlauf der Darstellung werden von Winkler die durch die Straßen Berlins ins Stadtzentrum ziehenden Züge mit streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern, die eine Verbrüderung mit den kasernierten Soldaten erreichten und öffentliche Gebäude besetzten, überhaupt nicht erwähnt, als ob es sie gar nicht gegeben hätte. Nach Winkler war der Übergang der Naumburger Jäger zur Mehrheitssozialdemokratie und ihren Zielen am frühen Vormittag des 9. November durch eine Rede von Otto Wels in der Kaserne vor den Soldaten und Offizieren erreicht, entscheidend dafür, dass der Reichskanzler Max von Baden seine Zuversicht verlor und die Abdankung des Kaisers ankündigte. Alle weiteren Aktionen am 9. November spielen sich in der Darstellung von Winkler dann nur noch auf höchster politischer Ebene ab.[12]
Die Darstellung über den Zeitpunkt des Auftretens von Otto Wels in der Alexanderkaserne wird von Winkler ohne jede Überprüfung aus der Wels-Biographie von Hans J. L. Adolph übernommen, dessen einzige Quelle der am 9. November 1919 veröffentlichte Erinnerungsbericht von Wels ist. Es ist unwahrscheinlich, dass Otto Wels bereits am frühen Vormittag vor Eintreffen der Revolutionszüge an der Kaserne war, wie Winkler auf Grund der Wels-Biographie von Adolph schildert. Denn die erste Meldung über den Übergang eines Regiments traf erst um 11 Uhr im Kriegsministerium ein. Weitere Meldungen dieser Art folgten dann schlagartig. Zeitlich ähnlich ordnet Max von Baden in seinen Memoiren die Meldung über die Naumburger Jäger kurz nach einer gegen 10 Uhr eingetroffenen Nachricht über einen viele Tausende zählenden Demonstrationszug auf dem Weg ins Stadtinnere ein.[13] Gegen die von Winkler übernommene Version von Adolph bzw. Wels sprechen vor allem das Protokoll der SPD-Reichtagsfraktionssitzung und die entsprechenden Aufzeichnungen des SPD-Reichstagsabgeordneten Giebel, in denen der Übergang der Alexander-Kaserne zu den Aufständischen nicht auftaucht. Denn Wels hätte dieses bedeutende Ereignis sicherlich sofort an die Reichstagsfraktion weitergemeldet. Offensichtlich spielte sich Wels’ Auftreten in der Alexanderkaserne zeitnah zu dem Anschluss der Truppen an die revolutionären Demonstranten in den übrigen Berliner Kasernen ab und hat deshalb am Revolutionstage selbst keine besondere Beachtung gefunden.
Ebenso falsch ist die von Wels in seinem Erinnerungsbericht gegebene Version über den Zeitpunkt eines Streikaufrufs der MSPD um 8 Uhr am Morgen. Dieser Aufruf zum Generalstreik durch die MSPD ist nach den Formulierungen im Protokoll und den Notizen Giebels mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erst nach der um 9 Uhr beginnenden Fraktionssitzung ergangen, höcshtwahrscheinlich im Rahmen der dort angekündigten und am späten Vormittag abgehaltenen Versammlung der Parteiführung mit den mehrheitssozialdemokratischen Betriebsleuten. Denn in den Notizen des Reichstagsabgeordneten Giebel heißt es: „Ebert: Arbeitseinstellung im Fluß; denn [sic! – entweder Lesefehler oder im Berliner Slang für „dann“] Parole allgemeine Arbeitseinstellung ausgeben, aber Ruhe und Ordnung wahren.“ Der SPD-Streikaufruf wurde als Flugblatt erst mittags verteilt, als die Demonstrationszüge schon die Innenstadt Berlins erreicht hatten.[14] Winkler stützt sich stark auf die Wels-Biographie von Hans J. Adolph, der für die Ereignisse vom 9. November lediglich einen Erinnerungsbericht des Beteiligten Otto Wels (ab 1919 Parteivorsitzender) und die Darstellung des Reichstagsabgeordneten Hermann Müller-Franken (der am 9. November erst am Abend in Berlin eintraf) als Belege angibt. Ein Abgleich mit anderen Quellen wird weder von Adolph noch von Winkler durchgeführt.[15]
Es bleibt die von vielen Historikern häufig vergessene Tatsache bestehen: Nur auf Grund des von den Linkssozialisten - gegen den tagelangen intensiven Widerstand der Mehrheitssozialdemokraten - initiierten und erfolgreich angelaufenen revolutionären Massenstreik am 9. November in Berlin wurde die Machtübernahme durch die MSPD-Führer möglich. Die deutsche Novemberrevolution 1918 bedarf nach 90 Jahren eines differenziert revidierten Geschichtsbildes!
Neuere Wertungen zur Novemberrevolution[16]
Der Historiker Heinrich August Winkler hat 1984 die Gesamtpolitik der MSPD-Führung noch scharf dafür kritisiert, „daß extrem monarchistische Funktionsträger in Schlüsselstellungen verblieben… die Ersetzung belasteter Exponenten der alten Ordnung durch jüngere, weniger belastete, in manchem Fall sogar bewußt demokratische Kräfte, wäre in der zivilen Verwaltung ebenso möglich gewesen wie im Militär. In beiden Fällen haben die regierenden Sozialdemokraten ihre Chance 1019/19 nicht genutzt – zum bleibenden Schaden für die Republik.“[17]
Dagegen äußert sich Winkler in einem 2002 publizierten Aufsatz wesentlich zurückhaltender: Die MSPD-Führung hätte die Priorität auf „eine rasche Demobilisierung, einen zügigen Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, die Bewahrung der Reichseinheit gelegt. Diese Ziele waren nur im Zusammenwirken mit der Obersten Heeresleitung, dem hohen Beamtentum und der Unternehmerschaft zu erreichen.“ Dies sei „in der neueren Revolutionsforschung auch nicht mehr strittig.“ Die Kritik formuliert Winkler dann wesentlich moderater als 1984: „Die Zusammenarbeit mit den alten Eliten ging weiter, als es die Verhältnisse erforderten. Bei stärkerem Gestaltungswillen hätten die Mehrheitssozialdemokraten mehr verändern können.“[18]
Winkler sieht nicht die Möglichkeit einer „radikalen Erneuerung“ in der deutschen Novemberrevolution, sondern die Notwendigkeit, sich damit abzufinden, dass nicht nur die alten Eliten, sondern auch große Teile des Bürgertums Vorbehalte gegenüber der Republik hegten. Für den Fall des Versuchs einer radikalen Erneuerung beschwört Winkler dann sogar die Gefahr des Bürgerkrieges mit der Folge einer linken oder – wahrscheinlicher – einer rechten Diktatur nicht nur für Deutschland, sondern für Europa und die Welt herauf.[19] Damit bewegt sich Winkler zurück auf das alte westdeutsche Geschichtsbild der 1950er Jahre.
Auf die Ereignisse in Berlin am 9. November 1918 geht Winkler in seinem Aufsatz von 2002 nicht ein. Das geschieht auch nicht in dem aktuellsten Werk von Helga Grebing „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert“ (2007).
Allerdings wird bei Grebing die Kritik an der mehrheitssozialdemokratischen Parteiführung stärker akzentuiert vorgetragen als 2002 bei Winkler. Grebing kritisiert den Glauben der MSPD-Fühung an die Fachkompetenz der alten obrigkeitsstaatlichen Bürokratie, die Abhängigkeit der Politik vom Militär einschließlich der Freiwilligenformationen.[20] Die Räte werden von ihr positiv gewertet, und sie bedauert ihre „strikte Ablehnung“ durch die Führung der MSPD und der Gewerkschaften. Denn dies hätte die „massenmobilisierende reformerische Kraft“ der Rätebewegung geschwächt.[21]
Während die Historikerin Eberts Fähigkeiten als pragmatischer, durchaus sozialistischer Politiker herausstreicht, dem das „Demokratie-Gebot“ als Richtschnur seines Handelns diente,[22] kritisiert sie Gustav Noske, dem für das Militär zuständigen Volksbeauftragten und späteren Reichswehrminister: „Noskes Konfliktlösungstaktik ließ ab Januar 1919 die bis dahin relativ gewaltlos ablaufende Revolution zu einem gewaltbestimmten Bürgerkrieg eskalieren, der bis zum Kapp-Putsch im März 1920 andauerte und die gerade gegründete Republik in ihrer Existenz schwer beeinträchtigte und die Legitimationsgrundlagen für die Akzeptanz der Republik durch eine aufgeklärte politische Linke infrage stellte.“[23] Dabei ignoriert Grebing, dass Ebert die Politik Noskes kontinuierlich unterstützte, sich sogar nach dem Kapp-Putsch vom März 1920 gegen die Forderungen des Parteivorstandes nach Rücktritt Noskes stemmte und mit seinem Rücktritt als Reichspräsident drohte. Erst als daraufhin die Parteiführung unter Wels eine Aufgabe ihrer Ämter auf einem sofort einzuberufenen Parteitag ankündigte, gab Ebert nach und akzeptierte die Demission Noskes.[24]
Die Kritik an der Militärpolitik der MSPD wird von Grebing sogar wiederholt vorgebracht: Die Radikalisierung der Räte hätte sich verstärkt, als die Regierung „den beginnenden Arbeiterradikalismus mit der Gewalt der Waffen konterrevolutionärer Truppen zu ersticken versuchte.“ Es wäre dadurch vermehrt zu einem „Protest in der Arbeiterschaft bis weit in die Reihen der MSPD“ gekommen. „Erst jetzt“ wären „Streikbewegungen und Revolten bürgerkriegsartigen Ausmaßes“ entstanden, auch in der Provinz.[25]
Grebing konstatiert ziemlich zum Schluss ihrer Betrachtungen ein Steckenbleiben der deutschen Novemberrevolution – als „das ziemlich einhellige Urteil der Historiker -, verneint aber ein Scheitern: „Eine demokratische Republik, von der Mehrheit der Bevölkerung bis ins Bürgertum hinein so gewollt, die es nun zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gab – es hätte sie ohne den revolutionären Aufstand im November 1918 nicht gegeben.“[26]
[1] Zur Historiographie der Novemberrevolution in der DDR siehe: Jürgen John: Das Bild der Novemberrevolution 1918 in Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft der DDR, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik, München 2002, S.43-84; Mario Keßler: Die Novemberrevolution in der Geschichtswissenschaft der DDR. Die Kontroversen des Jahres 1958 und ihre Folgen im internationalen Kontext, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2008/III, S.38-58.
[2] Die Bezeichnung mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands, MSPD oder Mehrheitssozialdemokraten wird hier – obwohl von den Betroffenen selbst meist der alte Name Sozialdemokratische Partei Deutschlands bevorzugt wurde – benutzt, um eine klare Absetzbarkeit gegenüber der im April 1917 gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), hier auch Unabhängige Sozialdemokraten genannt, zu erreichen.
[3] Helga Grebing: Konservative Republik oder soziale Demokratie? Zur Bewertung der Novemberrevolution in der neueren westdeutschen Historiographie [Erstveröffentlichung 1969], in: dies. (Hg.): Die deutsche Revolution 1918/19, Berlin 2008, S. 17-35; Reinhard Rürup: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte [Erstveröffentlichung 1993], in: ebd., S. 306-315. Weitere Autoren dieses Bandes sind: Kolb, von Oertzen, Peter Lösche, Gerhard A. Ritter, Richard Löwenthal, S. Miller, Potthoff, Hermann Weber, Manfred Scharrer, Winkler, P. Brandt, Rürup, Walter Euchner. Ein gutes Verzeichnis der relevanten Darstellungen und Quelleneditionen in: Klaus Schönhoven: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1889, S. 241 ff.
[4] In neueren Arbeiten werden die alten Darstellungsweisen übernommen: Helmut Schmersal: Philipp Scheidemann . 1865-1939. Ein vergessner Sozialdemokrat, Frankfurt am Main etc. 1999, S. 158 f.; Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert. 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 106-108.
[5] Zu den Vorgängen in Berlin am 9. November 1918 und an den Vortagen ausführlich: Ottokar Luban: Die Novemberrevolution 1918 in Berlin. Eine notwendige Revision des bisherigen Geschichtsbildes, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegungen, 2009/I, S. 53 ff.
[6] Auszug aus dem Vorstandsbericht für den Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 10. Juni 1919, in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, bearbeitet von Dr. Herbert Michaelis und Dr. Ernst Schraepler unter Mitwirkung von Dr. Günter Scheel, Bd.2: Der militärische Zusammenbruch und das Ende des Kaiserreiches, o. O., o. J., [Berlin [West] 1958?], S, 571 f.
[7] Eberhard Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919, um ein Vorwort und einen bibliographischen Anhang erweiterte [Taschenbuch-]Ausgabe, Frankfurt/Main-Berlin [West] 1978, S. 62, S. 115..
[8] Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19, 2. erw. Aufl., Berlin, Bonn – Bad Godesberg 1976, S. 78.
[9] Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920, Düsseldorf 1978, S. 81.
[10] Ebd., S. 41.
[11] Heinrich-August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, 1918 bis 1924, 2., völlig durchgesehene und korr. Aufl., Bonn/Berlin [West] 1985, S. 42, S. 43 mit Anm. 62 (Dort zur letzteren Aussage – Flugblattverteilung - der falsche Beleg: „R. Müller…“).
[12] Ebenda, S. 45 ff., insbes.: S. 45 f.
[13] Ernst-Heinrich Schmidt: Heimatheer und Revolution 1918. Die militärischen Gewalten im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, Stuttgart 1981, S. 335 mit Anm. 212, S. 337; Max von Baden: Erinnerungen (Auszug), in: Gerhard A. Ritter/Susanne Miller (Hrsg.): Die deutsche Revolution 1918-1919. Dokumente, Frankfurt/Main 1983, S. 75.
[14] Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918, zweiter Teil, bearbeitet von Erich Matthias und Eberhard Pikart, Düsseldorf 1966, S. 518 f., S. 520 (Zitat: Notizen Giebel); Richard Müller: Vom Kaiserreich zur Republik. Bd. II: Die Novemberrevolution, Wien 1925, S. 24, S. 230; Eberhard Buchner, Revolutionsdokumente. Im Zeichen der roten Fahne, 1. Bd., Berlin 1921, S. 130.
[15] Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 42 f., S. 45 f.; Hans J. L. Adolph: Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894 – 1939, Berlin 1971, S. 77 f.; Hermann Müller-Franken: Die Novemberrevolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 45-53; Otto Wels: Die Revolution in Berlin, in: Volk und Zeit. Bilder zum Vorwärts, 1. Jg., Nr. 20, Berlin, den 9. November 1919.
[16] Aus den neueren Arbeiten der bereits in der Revolutionsforschung der alten Bundesrepublik tätigen Forscher werden hier exemplarisch zwei Beiträge ausgewählt.
[17] Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 75.
[18] Heinrich August Winkler: Ein umstrittener Wendepunkt: Die Revolution von 1918/19 im Urteil der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik, München 2002, S. 36 (alle Zitate).
[19]Ebd., S. 41 f. (Zitat S. 41).
[20] Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 69.
[21] Ebd., S. 71.
[22] Ebd., S. 68.
[23] Ebd., S. 70.
[24] Hans J. L. Adolph: Otto Wels, S. 155-157.
[25] Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 72.
[26] Ebd., S. 74.