Basisdemokratie à la Bolivariana
In Venezuela soll der Staat von unten neu entstehen. Das führt zu Konflikten.
»Wir brauchen eine Organisation auf nationaler Ebene, damit wir von den staatlichen Institutionen als Akteur ernst genommen werden«, meint Luis. Luis ist Mitglied des Nationalen Netzwerk der Comuneros und Comuneras (RNC), das sich zum Ziel gesetzt hat, aus den Basisinitiativen der Consejos Comunales (CCs), der »kommunalen Räte«, eine landesweite Struktur zu bilden. In einem kleinen Büro an der Plaza O'Leary im Stadtkern von Caracas treffen sich Mitte April 2012 VertreterInnen des Netzwerks, um das nächste überregionale Treffen zu planen. »Es geht um die Ausweitung der Bewegung bis hin zur Errichtung eines Staats, der von den kommunalen Räten ausgeht«, fügt Luis hinzu.
Seit Anfang 2006 forciert Venezuelas Präsident Hugo Chávez die landesweite Gründung von CCs. (Siehe ak 521) Es ist eine Lehre aus den erfolgreichen Massenmobilisierungen gegen den Putsch im April 2002 und den Unternehmerstreik 2002/2003. Seitdem begann Chávez, Selbstermächtigungsprozesse aktiv zu unterstützen.
Die Bewegung der Consejos Comunales
Consejos Comunales sind Basisinitiativen zur Selbstverwaltung auf lokaler Ebene. Die Vollversammlung der Gemeinde ist ihre höchste Entscheidungsinstanz. Stimmberechtigt sind alle BewohnerInnen ab einem Alter von 15 Jahren. In Abgrenzung zum klassischen Repräsentationsprinzip haben die gewählten SprecherInnen ausschließlich eine Delegiertenfunktion und können jederzeit abgewählt werden.
Die CCs haben Zugang zu einem breiten Spektrum staatlicher Finanzierungsmöglichkeiten, die projektbezogen bereitgestellt werden. In Eigenregie organisieren die Räte zum Beispiel Infrastrukturprojekte oder bauen Betriebe in Selbstverwaltung auf. Oft geht es um Grundlegendes: die Trinkwasserversorgung zu gewährleisten, eine Zufahrtstraße zu asphaltieren oder Wohnraum bereitzustellen. Doch auch öffentliche Räume für die Versammlungen werden aufgebaut. Zudem übernehmen die CCs mittlerweile kleinere Verwaltungsaufgaben. So werden sie in die Stadtplanung einbezogen, stellen Meldebescheinigungen aus und sind erste Ansprechpartner bei Konflikten mit dem Vermieter.
Mit den konkreten ökonomischen Zwecken sind jedoch auch langfristige politische Ziele verknüpft. Chávez beschreibt die CCs als zentrale Basiseinheiten zur Selbstermächtigung der Bevölkerung (»Poder Popular«). Von den CCs ausgehend sollen Strukturen wie die Comunas (Kommunen), Ciudades Comunales (kommunale Städte) oder eine landesweite »Konföderation der CCs« aufgebaut werden. Diese sollen ein Rätesystem bilden, das den bürgerlich-liberalen Staat nach und nach ersetzt. Das Ziel: der »Estado Comunal«. Es gehe darum, »mit dem kapitalistischen Modell und der falschen liberalen Demokratie zu brechen, die keine Demokratie ist, sondern die Diktatur der Eliten«, erklärte Chávez das Vorhaben im Jahr 2005.
Dass dies nicht bloß Lippenbekenntnisse sind, zeigt ein Blick in das venezolanische Rechtssystem. So ging die partizipative Demokratie als Grundprinzip in die Verfassung ein, die 1999 unter Chávez verabschiedet wurde. Außerdem wurden Elemente der Selbstverwaltung und der demokratischen Dezentralisierung festgeschrieben. In dem mit knapper Mehrheit gescheiterten Verfassungsreferendum von 2007 wären die Comunas und Ciudades Comunales als Instanzen der Selbstregierung in die Verfassung aufgenommen worden. (Siehe ak 524) Sogar ein eigenes Ministerium wurde eingerichtet, um die kommunale Rätebewegung zu unterstützen.
Der Ansatz der Basisorganisierung in den CCs ist durch eine staatliche Initiative »von oben« ins Leben gerufen worden. Dadurch entstehen überall im Land Projekte mit ähnlichen Vorhaben, doch ohne notwendigerweise voneinander zu wissen, geschweige denn sich untereinander zu vernetzen. Das RNC möchte diesen Zustand überwinden. Es ist Sammelbecken für Initiativen mit einer gewissen Organisierungserfahrung und einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive.
Obwohl sich die Rätebewegung in den Dienst eines Regierungsprojekts stellt, hat das RNC ein staatskritisches Selbstverständnis. Im Mittelpunkt steht die Überzeugung, dass eine emanzipatorische Transformation der Gesellschaft nur durch die organisierte Bevölkerung umgesetzt werden kann. »Die Bewegungen, die aktuell dafür in Frage kommen, sind die Kämpfe um Arbeiterkontrolle in den Betrieben, die Bewegung für ein Recht auf Stadt und wir«, fasst Oriana auf dem Treffen an der Plaza O'Leary zusammen. (1)
Venezuelas Sozialismus: »Aufbau von zwei Seiten«
So wichtig staatliche Unterstützung sein kann, beim Aufbau von Basisorganisierung vertraut das RNC allein auf die sozialen Bewegungen. Denn in der Praxis zeigt sich schnell die Beschränktheit der staatlichen Versuche, eine soziale Bewegung zu initiieren, auch bei den CCs. So werden viele Räte vor allem aus ökonomischen Motiven gegründet, zum Beispiel, um sich den Bau eines neuen Hauses zu finanzieren. Eine lokale Selbstverwaltungsstruktur entsteht auf diese Weise nicht. Andererseits blähen RegierungspolitikerInnen die Zahl der CCs stark auf, um sich selbst Erfolge beim Aufbau von CCs zu attestieren. Zudem werden die Räte teilweise als lokale Clubs der ChávezanhängerInnen fehlinterpretiert. »Selbstermächtigung lässt sich eben nicht per Dekret einführen«, meint Oriana dazu schulterzuckend.
Theoretisch sind sich Regierung und Bewegung einig, wie die Transformation der Gesellschaft organisiert werden soll: über ein gemeinsames Projekt von Staat und Bewegung - den »Aufbau von zwei Seiten«, wie Dario Azzellini es in seinem Buch über das venezolanische Partizipationsexperiment beschreibt. (2)
Hierbei soll das Primat der Bewegungen gelten. Ihnen kommt die zentrale Rolle in der Entwicklung eines alternativen Gesellschaftsentwurfs zu. Der Staat soll sich darauf begrenzen, allein im Sinne der Bewegungen zu handeln und die Durchsetzung ihrer Ziele zu ermöglichen.
In der Praxis prallen Staat und Bewegung aufeinander
Der politische Alltag gestaltet sich jedoch deutlich widersprüchlicher. Viele Akteure im Staat lassen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Macht keineswegs an die organisierte Bevölkerung abtreten wollen. »Manchmal habe ich das Gefühl, das größte Problem, das wir Comuneros haben, bereitet uns das Ministerium für Comunas selbst«, meint eine Aktivistin des RNC. Es gibt unzählige Beispiele für Konflikte zwischen regierungstreuen Teilen im Staat und den Initiativen der politischen Selbstverwaltung.
Die Entstehung des RNC geht auf eine Initiative des Ministeriums für Planung und Entwicklung zurück. Dabei sollten die stärksten lokalen Basisansätze an einen Tisch gebracht werden, um ihre Erfahrungen in die Entwicklung der Selbstverwaltungsstrukturen einzubringen. Anfangs bestanden gute Kontakte in die ministerielle Ebene. Als sich das Ministerium für Comunas gründete, kam es jedoch zum Konflikt. Die AktivistInnen mussten sich entscheiden, eine Anstellung im Ministerium zu akzeptieren oder den Zugang zu den so wichtigen finanziellen und logistischen Mitteln zu verlieren. Da eine Anstellung der einzelnen AktivistInnen für sie jedoch der Auflösung des RNC gleichgekommen wäre, entschieden sie sich gegen das Ministerium.
Oft sehen staatliche Akteure in den sozialen Bewegungen vor allem eine Bühne, um sich selbst zu profilieren. Statt ihre Eigenständigkeit zu fördern, versuchen sie, die Bewegungen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu treiben. In diesen Beharrungslogiken unterscheiden sich die Institutionen kaum. Sie werden allein von einzelnen Personen in Staat durchbrochen, zu denen die Bewegungen auch immer wieder strategische Kontakte aufbauen.
Ein wichtiger Konfliktpunkt zwischen dem Ministerium und den Comuneros und Comuneras war, dass das Ministerium die Kompetenz zur Gründung von Comunas für sich beanspruchte. »Als sich das Ministerium gründete, luden sie uns zu einem Treffen ein. Wir übergaben ihnen unsere Konzepte über die comunalen Strukturen. Später gab das Ministerium diese Unterlagen als ihre eigenen aus, mit einer einzigen Änderung: Die Comunas werden nun nicht mehr von der Bewegung, sondern vom Ministerium gegründet«, erzählt mir Celso vom RNC.
Selbstregierungsinstanzen, die so funktionieren, wie sie sollten, also die Interessen ihrer Gemeinde vertreten, können schnell in den Konflikt mit staatlichen Institutionen kommen. Wenn sie beispielsweise auf politisches Versagen, Ineffizienz und Korruptionsfälle hinweisen, geht es vielen im Staat doch zu weit mit der Poder Popular. Die Basisinitiativen und ihre UnterstützerInnen werden auch zum direkten Ziel politischer Angriffe. Bisweilen putschen RegierungsanhängerInnen basisnahe PolitikerInnen aus ihren Ämtern. Oder die Bewegungen werden öffentlichkeitswirksam denunziert. Besonders beliebt ist dabei der Vorwurf, eigentlich »Antichavisten« zu sein. Auch über finanzielle Anreize wird Zwist gestreut. So hat das RNC schon MitstreiterInnen verloren, die plötzlich finanzielle Zuwendungen durch Institutionen erhielten.
Auf dem landesweiten Treffen des RNC, das Mitte Mai stattfindet, erklärt man mir, es sei unausweichlich, dass es zu diesen Konflikten komme. Die staatlichen Institutionen würden immer versuchen, ihre eigene Macht zu sichern. Das Ministerium für Comunas zum Beispiel habe kein Interesse an einer unabhängigen Bewegung, die für sich selbst spricht, da es dann überflüssig würde. »Die Institutionen selbst sind das Problem. Deshalb brauchen wir eine eigene Organisierung«, hält Oriana als Ergebnis einer Arbeitsgruppe fest.
Das Verhältnis des RNC zum Staat ist ambivalent. Einerseits sind die Comuneras und Comuneros durch die Übermacht der staatlichen Institutionen in ihrer Autonomie ständig bedroht. Andererseits wissen sie, dass die Bewegung der kommunalen Räte nur unter der Regierung von Chávez weiter bestehen kann. Die meisten distanzieren sich mittlerweile von der Regierungspartei Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV). Am Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober beteiligen sich dennoch alle mit großem Engagement. Ob der Balanceakt zwischen Autonomie und Kooperation auch in Zukunft gelingt, ob in Venezuela eine neue Antwort auf die alte Frage nach dem Verhältnis von Staat und Bewegung entsteht, ist offen.
Tim Graumann ist aktiv bei FelS - Für eine linke Strömung und war gerade ein Jahr in Caracas. Er schreibt seine Abschlussarbeit zur Bewegung der Comuner@s.
Anmerkungen:
1) Zu den Erfahrungen mit Modellen der Arbeiterkontrolle gab es in ak 571 ein Interview mit zwei venezolanischen GewerkschafterInnen.
2) Dario Azzellini: Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune. Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela. VSA-Verlag, Hamburg 2010, 408 Seiten, 24,80 EUR.