Nationalisierte Industrie und Arbeiterselbstverwaltung
Vorbemerkung: Der russische Revolutionär Leo Trotzki schrieb diesen Text im Juni 1938 im mexikanischen Exil. Darin beschäftigt er sich mit Verstaatlichungen anglo-amerikanischer Ölkonzerne durch die mexikanische Cardenas-Regierung.
Der Text wurde in den englischsprachigen "Writings of Leon Trotsky 1938/39" im Jahr 1969 veröffentlicht.
In den industriell rückständigen Ländern spielt ausländisches Kapital eine entscheidende Rolle. Weiterhin die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Verhältnis zum nationalen Proletariat. Hierdurch entstehen spezifische Bedingungen für die Staatsmacht. Die Regierung laviert zwischen ausländischem und inländischem Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem relativ mächtigen nationalen Proletariat. Dies verleiht der Regierung einen bonapartistischen Charakter sui generis, einer ganz bestimmten Art. Sie erhebt sich selbst, um es so auszudrücken, über die Klassen. In Wirklichkeit hat die Regierung zwei Möglichkeiten: entweder macht sie sich zum Instrument des ausländischen Kapitals und hält das Proletariat in den Ketten einer Polizeidiktatur; oder sie manövriert mit dem Proletariat und geht dabei sogar so weit, Zugeständnisse an das Proletariat zu machen, um auf diese Weise die Möglichkeit einer gewissen Freiheit gegenüber dem ausländischen Kapital zu gewinnen. Die gegenwärtige Politik (der mexikanischen Regierung 1938) befindet sich in der zweiten Phase: ihre größten Eroberungen sind die Enteignung der Eisenbahn und die Enteignung der Ölindustrien.
Diese Maßnahmen befinden sich vollständig innerhalb des Rahmens des Staats-kapitalismus. Jedoch unterliegt der Staatskapitalismus selbst in einem halbkolonialen Land dem schweren Druck des privaten ausländischen Kapitals und seiner Regierungen und kann sich selbst nicht ohne die aktive Unterstützung der Arbeiter halten. Das ist der Grund, weshalb er versucht, einen beträchtlichen Teil der Verantwortung für den Verlauf der Produktion in den nationalisierten Branchen der Industrie den Arbeiterorganisationen zu übertragen, ohne die wirkliche Macht aus der Hand gleiten zu lassen.
Welche Politik sollte eine Arbeiterpartei in diesem Falle einschlagen? Es wäre freilich ein unheilvoller Irrtum, regelrechte Täuschung, zu meinen, der Weg zum Sozialismus vollzöge sich nicht über die proletarische Revolution, sondern über die Nationalisierung verschiedener Industriebranchen durch den bürgerlichen Staat und ihre Übertragung in die Hand der Arbeiterorganisationen.
Aber das steht nicht zur Debatte. Die bürgerliche Regierung hat selbst die Nationalisierung durchgeführt und ist gezwungen worden, die Beteiligung der Arbeiter an der Verwaltung der nationalisierten Industrie zu erbitten. Man kann natürlich der Frage ausweichen, indem man die Tatsache anführt, dass die Teilnahme der Gewerkschaften an der Verwaltung der Unternehmen des Staatskapitalismus keine sozialistischen Ergebnisse bringen kann, wenn das Proletariat nicht die Macht ergreift. Aber so eine negative Politik auf revolutionärer Seite würde von den Massen nicht verstanden werden und würde opportunistische Positionen stärken. Für Marxisten handelt es sich nicht darum, den Sozialismus mit den Händen der Bourgeoisie zu bilden, sondern die Situationen auszunützen, die sich innerhalb des Staatskapitalismus darbieten, und die revolutionäre Bewegung der Arbeiter voranzutreiben.
Die Teilnahme am bürgerlichen Parlament kann keine wichtigen positiven Resultate mehr hervorbringen; unter gewissen Bedingungen führt sie sogar zur Demoralisierung der Arbeiter-Abgeordneten. Aber das ist keine Argumentation für Revolutionäre zugunsten des Antiparlamentarismus.
Es wäre nicht richtig, die Politik der Arbeiterbeteiligung an der Verwaltung der nationalisierten Industrie mit der Teilnahme der Sozialisten in einer bürgerlichen Regierung (die wir Ministerialismus nannten) gleichzusetzen. Alle Mitglieder der Regierung sind durch die Bande der Solidarität miteinander verbunden. Eine Partei, die in der Regierung vertreten ist, ist verantwortlich für die ganze Politik der Regierung in ihrer Gesamtheit. Die Teilnahme an der Verwaltung gewisser Industriebranchen dagegen gibt Gelegenheit zu politischer Opposition. Im Falle, dass die Arbeitervertreter in der Verwaltung in der Minderheit sind, können sie ihre Vorschläge, die von der Mehrheit abgelehnt wurden, erklären und veröffentlichen, sie den Arbeitern zur Kenntnis bringen usw.
Die Beteiligung der Gewerkschafter an der Verwaltung der nationalisierten Industrie kann mit der Teilnahme von Sozialisten an städtischen Regierungen verglichen werden, wo die Sozialisten manchmal eine Mehrheit gewinnen und gezwungen sind, eine wichtige städtische Wirtschaft zu leiten, während die Bourgeoisie weiterhin die Herrschaft im Staat hat und bürgerliche Eigentumsrechte weiterhin gelten. Die Reformisten in der Stadtverwaltung passen sich passiv dem bürgerlichen Regime an. Revolutionäre auf diesem Gebiet tun alles, was sie können, im Interesse der Arbeiter, gleichzeitig wissen sie bei jedem Schritt, dass Stadtpolitik ohnmächtig ist ohne die Eroberung der Staatsmacht.
Der Unterschied besteht gewiss darin, dass die Arbeiter auf dem Gebiet der Stadtregierung gewisse Positionen mit den Mittel demokratischer Wahlen gewinnen, während es auf dem Gebiet der nationalisierten Industrie die Regierung selbst ist, die sie zur Übernahme gewisser Positionen einlädt. Aber dieser Unterschied hat rein formalen Charakter. In beiden Fällen ist die Bourgeoisie gezwungen, den Arbeitern gewisse Sphären der Aktivität zu überlassen. Die Arbeiter nutzen diese in ihrem eigenen Interesse.
Es wäre leichtsinnig, vor den Gefahren die Augen zu schließen, die sich aus der Situation ergeben, in der die Gewerkschaften eine führende Rolle in der nationalisierten Industrie spielen. Die Grundlage der Gefahr besteht in der Verbindung der obersten Gewerkschaftsführer mit dem Apparat des Staatskapitalismus, in der Verwandlung beauftragter Vertreter des Proletariats in Geisel des bürgerlichen Staates. Aber wie groß diese Gefahr auch immer sein mag, so stellt sie doch nur einen Teil einer allgemeinen Gefahr dar, genauer gesagt einer allgemeinen Krankheit, das ist die bürgerliche Entartung der gewerkschaftlichen Apparate in der imperialistischen Epoche, nicht nur in den alten Metropolen, sondern auch in den kolonialen Ländern. Die Gewerkschaftsführer sind in einer überwältigenden Mehrzahl der Fälle politische Agenten der Bourgeoisie und ihres Staates. In der nationalisierten Industrie können sie direkte administrative Agenten werden, und sie sind schon dabei.
Hiergegen gibt es keinen anderen Kurs als den allgemeinen Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiterbewegung, besonders durch die Bildung fester revolutionärer Kerne innerhalb der Gewerkschaften, die in der Lage sind, für eine Klassenpolitik und für eine revolutionäre Zusammensetzung der führenden Körperschaften zu kämpfen, während sie gleichzeitig die Einheit der Gewerkschaftsbewegung aufrechterhalten.
Eine Gefahr anderer Art liegt in der Tatsache, dass die Banken und andere kapitalistische. Unternehmen, von denen eine gegebene Branche der nationalisierten Industrie im ökonomischen Sinne abhängt, besondere Methoden der Sabotage anwenden könnten und werden, der Arbeiterverwaltung Hindernisse in den Weg zu legen, sie diskreditieren und in ein Desaster stoßen. Die reformistischen Führer werden versuchen, diese Gefahr abzuwehren, indem sie sich sklavisch an die Bedürfnisse der kapitalistischen besonders der Banken, anpassen. Die revolutionären Führer werden dagegen aus der Sabotage durch die Banken die Schlussfolgerung ziehen: dass es notwendig ist, die Banken zu enteignen und eine einzige Nationalbank zu errichten, die die Rechnungsstelle für die ganze Wirtschaft ist. Natürlich muss diese Frage unlösbar mit der Frage der Machteroberung durch die Arbeiterklasse verbunden sein.
Die verschiedenen kapitalistischen Unternehmen, nationale und ausländische, werden unvermeidlich mit den Staatsinstitutionen eine Verschwörung beginnen, um der Arbeiterverwaltung der nationalisierten Industrie Hindernisse in den Weg zu legen. Auf der anderen Seite müssen sich die Arbeiterorganisationen, die an der Verwaltung verschiedener Branchen der nationalisierten Industrie beteiligt sind, zusammenschließen, um ihre Erfahrungen auszutauschen, müssen sich gegenseitig ökonomische Unterstützung geben, müssen mit vereinten Kräften über die Regierung, über die Kreditbedingungen usw., Einfluss zu nehmen suchen. Natürlich muss so ein zentrales Büro der Arbeiterverwaltung der nationalisierten Branchen der Industrie in engem Kontakt mit den Gewerkschaften stehen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieses neue Arbeitsfeld beides - sowohl größte Chancen als auch größte Gefahren - bietet. Die Gefahren bestehen darin, dass der Staatskapitalismus durch Vermittlung der kontrollierten Gewerkschaften die Arbeiter in Schach halten kann, sie grausam ausbeuten und ihren Widerstand paralysieren kann. Die revolutionären Möglichkeiten bestehen darin, dass die Arbeiter auf der Grundlage ihrer Stellung in außerordentlich wichtigen Industriebranchen den Angriff gegen alle Kräfte des Kapitals und gegen den bürgerlichen Staat führen können. Welche der Möglichkeiten wird siegen und innerhalb welcher Zeitspanne? Das kann man natürlich unmöglich vorhersagen. Das hängt vollständig vom Kampf der verschiedenen Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse ab, von der Erfahrung der Arbeiter selbst, von der Weltlage. Auf jeden Fall: um diese neue Form der Aktivität im Interesse der Arbeiter-klasse zu nutzen und nicht im Interesse der Arbeiterbürokraten und Arbeiterbürokratie, muss nur eine Bedingung erfüllt sein: dass eine revolutionäre, marxistische Partei existiert, die sorgfältig jede Form der Aktivitäten der Arbeiter-klasse studiert, jede Abweichung kritisiert, die Arbeiter erzieht und organisiert, Einfluss in den Gewerkschaften gewinnt und eine revolutionäre Arbeitervertretung in der nationalisierten Industrie gewährleistet.